100 Jahre Zauberberg: Was uns Thomas Manns Meisterwerk heute noch zu sagen hat (2024)

100 Jahre Zauberberg: Was uns Thomas Manns Meisterwerk heute noch zu sagen hat (1)

von Johannes Teschner

4 Min.

Der Roman "Der Zauberberg", erschienen im November 1924, ist nach wie vor aktuell, sagt der Mann-Experte Oliver Fischer. Ein Gespräch über Hate Speech und die Entschleunigung des Lebens

GEO: Ich gestehe: Ich habe Thomas Manns "Zauberberg" nicht gelesen. Als 18-Jähriger habe ich das Buch angefangen, aber nach einigen Seiten abgebrochen. Es schien mir damals zu kompliziert. Warum sollte ich es noch mal versuchen?

Oliver Fischer: Wenn Sie es nicht tun, bringen Sie sich um ein großes Lesevergnügen: Der "Zauberberg" ist vielleicht kein leichtes Buch, aber er ist, wenn man sich darauf einlässt, spannend, tiefgründig und oft wahnsinnig witzig. Und er ist, was oft vernachlässigt wird, politisch.

Inwiefern?

Thomas Mann beginnt die Arbeit am Zauberberg 1913, unterbricht sie mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs – und schreibt stattdessen "Betrachtungen eines Unpolitischen". Das ist so eine Art Großessay, in den er alles einbringen will, was er zu diesem Zeitpunkt über Politik zu wissen glaubt. Das Buch verteidigt in vielen Passagen die Ideologie des deutschen Kaiserreiches, unterstützt dessen Kriegspolitik mit teils markigen Worten, die eigentlich überhaupt nicht zu Mann passen. Und dann ist der Krieg zu Ende, das Kaiserreich geht unter, und Thomas Mann merkt, dass er falsch lag. Jetzt sucht er einen neuen Weg zu einer besseren, einer freundlicheren Gesellschaft.

Und das zeigt sich im "Zauberberg"?

Ein wichtiges Motiv im "Zauberberg" ist die Liebe: "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken", das ist der zentrale Satz des Romans, der einzige, der kursiv gedruckt wird. Aber Mann hat auch erlebt, wie viel Hass es auf der anderen Seite gibt. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik gibt es Hunderte politische Morde, denken Sie nur an Walter Rathenau und Matthias Erzberger. Und dieses radikale Ringen der verschiedenen Seiten, das bildet Mann im "Zauberberg" im Konflikt der Figuren Leo Naphta und Lodovico Settembrini ab.

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Naphta ist ein religiöser Fundamentalist und Fanatiker, Settembrini ein rationaler Intellektueller, der den Idealen der Aufklärung anhängt.

Naphta schließt sich jeder totalitären Ideologie sehr gerne an. Es kann Millionen Tote geben, Hauptsache die Wahrheit oder das, was er dafür hält, bleibt unangetastet. Die aufklärerischen Maximen von Settembrini bügelt er rigoros nieder, wird beleidigend. Das ist Hatespeech, wie wir sie auch heute mehr und mehr erleben: Es geht nicht um konstruktive Diskussionen, nicht um Fakten, sondern darum, den politischen Gegner niederzumachen.

Im Roman endet der Konflikt blutig.

Der Streit führt schließlich – ganz archaisch – zu einem Pistolenduell zwischen den beiden Männern. Settembrini aber schießt in die Luft. Als Naphta das merkt, erschießt er sich selbst. Dass Settembrini nicht auf ihn schießt, kann er sich nicht erklären, das hebelt seine Glaubenssätze aus, er kann von da an nicht mehr weiter. Das kann man auch als Kritik lesen an den politischen Zuständen in der frühen Weimarer Republik, als so viele Politiker durch Pistolenschüsse starben.

Meinen Sie, Manns Zeitgenossen haben das so verstanden?

Viele Menschen, die 1924 das Buch gekauft haben, werden es mit ihrer Zeit abgeglichen haben, mit dem, was sie erlebt haben. Als der "Zauberberg" erschien, war die ganz wilde Anfangszeit der Weimarer Republik ja schon vorbei, wurde es etwas ruhiger und friedlicher. Man hatte das Gefühl, eine schwierige Phase überstanden zu haben. Das war ein guter Moment, um ein Buch von 1000 Seiten zu lesen und zu sehen, ob es etwas darüber erklären kann, was in den vergangenen Jahren alles passiert war.

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Die Lektüre als ein Moment des Innehaltens, des Nachdenkens. Hans Castorp, der Protagonist des Romans, will seinen Cousin im Sanatorium auf dem Berg für drei Wochen besuchen. Er bleibt sieben Jahre. Und denkt ziemlich viel nach.

Ein zentrales Thema des Romans ist die Frage: Wie soll man leben? Castorp liest im Sanatorium wissenschaftliche Fachbücher zu existenziellen Fragen. Wie ist das Leben entstanden? Wie ist das Weltall entstanden? Als sein Cousin im Röntgenraum durchleuchtet wird, sieht er dessen schlagendes Herz. In diesem Moment wird ihm bewusst: Ich werde sterben; wenn mein Herz sich nicht mehr bewegt, dann bin ich nicht mehr da. Das ist ein sehr berührender Moment.

Ist das Buch ein Plädoyer für die heute wieder viel beschworene Entschleunigung des Lebens?

Die Entschleunigung des Lebens ist im Roman ein zwiespältiges Modell. Die Leute auf dem Zauberberg haben alle enorm viel Zeit. Aber der Roman feiert das nicht. Die Patienten auf dem Berg wirken mitunter, als wären sie eingeschlafen. Der Aufklärer Settembrini kritisiert, dass im Sanatorium keiner mehr Zeitung liest.Und schließlich werden alle aus dieser in gewisser Weise märchenhaften Welt gerissen durch den Ersten Weltkrieg. Ihr Rückzug auf sich selbst kann sie nicht vor der Realität bewahren. Auch Castorp muss aufs Schlachtfeld, sein Schicksal bleibt ungewiss.

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"Der Zauberberg" wird ein Bestseller, macht Mann reich und noch mehr zur öffentlichen Figur als zuvor. Auch weil er sich zunehmend in Reden zu gesellschaftlichen und politischen Themen äußert.

Die Zeit des "Zauberbergs" verbindet man mit der sogenannten republikanischen Wende Thomas Manns, mit der er sich zur neuen, demokratischen Staatsform bekennt. Konservative Zeitungen haben ihn deswegen heftig angefeindet. Eine Schlagzeile lautete: "Mann über Bord". Doch seine Auffassung von Demokratie ist schon aus damaliger Sicht defizitär. Er sinnt in dieser Zeit über einen homoerotischen Männerbund nach, der die neue Republik tragen soll. Und verdeutlicht dies durch das Gedicht eines amerikanischen Lyrikers, der die Gemeinschaft von jungen Männern beschwört, die sich an den Händen halten.

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War das schon eine Art Coming-out von ihm, ein Bekenntnis zu seiner Homosexualität?

Nein, nicht wirklich, er blieb letztlich verklausuliert. Aber sagen wir so: Die, die es wissen wollten, konnten es wissen. Und der Rest der Welt hat es mit der Veröffentlichung seiner Tagebücher ab 1977 erfahren, in denen er recht offen über sein gleichgeschlechtliches Begehren schreibt.

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